Kulturgeschichte des Schmerzes

Schmerz als Kommunikationsphänomen

Es ist ein Unterschied, ob ein sterbenskranker Patient oder ein gesunder Sportler, ob ein Arzt, ein Wissenschaftler, ein Philosoph, ein katholischer Theologe, ein tibetischer Mönch, ein Künstler, eine seit Jahren unter chronischen Beschwerden leidende Witwe oder ein kleiner Junge über Schmerzen sprechen. Schmerz ist zunächst immer eine subjektive also sehr persönliche Erfahrung. Die Art, wie Schmerzen beschrieben werden, lässt unterschiedliche Formen der Bewertung, der gefühlsmäßigen Betroffenheit und des Umgangs mit dem Schmerz erkennen.
 

"Schmerz ist das, was immer ein Mensch darunter versteht und Schmerz ist vorhanden, wann immer ein Mensch ihn wahrnimmt." (Margo McCaffery, 1968)

Die Art und Weise, wie wir Schmerzen zeigen und über sie sprechen wird von frühen Lernerfahrungen bestimmt, die von den jeweiligen kulturellen Werten beeinflusst sind und so z.B. die unterschiedliche individuelle Schmerztoleranz bzw. das unterschiedliche Schmerzverhalten von Menschen als auch ganzer Volksgruppen (Ethnien) erklären (z.B. „ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „ein Junge weint nicht“).
 

Im allgemeinen Sprachverständnis verbinden wir mit dem »Schmerz« Erfahrungen des Leidens und der Qual für Körper, Geist und Seele. Doch aus einer anderen Perspektive können Schmerzen auch Lust vermitteln, Macht begründen, die Seele läutern, Kräfte entfesseln. Wir sprechen davon, dass sich Sportler bis zur Schmerzgrenze quälen, sich aus Lust am Leiden austoben. "Die Tour der Leiden“ wird die Tour de France genannt. Auch: „Wer schön sein will muss leiden“ z.B. bei denen, die ihren Körper immer ausgedehnter tätowieren lassen. Schmerzen bei der Befriedigung sexueller Wünsche ist für viele Menschen heute kein Tabuthema mehr. Durch schmerzhafte „Initiationsriten“, z.B. Einführung eines Außenstehenden in eine Gemeinschaft, werden gesellschaftliche Positionen erworben oder das Erwachsensein begründet.  Der zum Mann werdende Jugendliche wird nicht nur in besondere Glaubensgeheimnisse eingeweiht, er muss auch körperliche Schmerzen ertragen. Wer denkt, diese Riten seien auf Verhaltensweisen von Naturvölkern beschränkt, ist oft überrascht, wenn in der Presse von Skandalen zu lesen ist, wo sich z.B. die „Neuen“ bei Militär, in Internaten oder bei „Cliquenbildungen“ schmerzhaften Aufnahmeprüfungen unterziehen mussten.

Auch jeder Behandler sollte sich bei Menschen mit Schmerz bewusst machen, wie sehr das Phänomen Schmerz über das individuelle Erleben hinaus von kulturell-gesellschaftlichen Normen beeinflusst ist und dies in der Behandlung berücksichtigt werden sollte.
 

Der Schmerz ist über das individuelle Erleben hinaus von kulturell-gesellschaftlichen Normen beeinflusst was auch in der Behandlung berücksichtigt werden sollte.

Das Wort „Schmerz“

Schon die Analyse der Alltagssprache zeigt, dass das Wort »Schmerz« im Deutschen nicht nur für eine Vielzahl körperlicher Missempfindungen („schmerzhaftes Ziehen in der Schulter“), sondern auch für Gefühlszustände verwendet wird („als Vater uns verließ, war das eine schmerzhafte Erfahrung“). In der deutschen Sprache gibt es wohl kaum ein Wort, das die Zusammenhänge von körperlichen Empfindungen, begleitenden Gefühlen, individuellen Vorstellungen sowie sozialen Konflikten („wenn der Rosenkrieg zur Schlammschlacht wird, macht das eine Scheidung sehr schmerzhaft“ ) so selbstverständlich voraussetzt wie der Begriff »Schmerz«.

Der Umfang der „Schmerzsprache“ ist im indoeuropäischen Sprachraum besonders umfangreich, während es im Hebräischen, Arabischen, Afrikanischen, Japanischen, Koreanischen und Chinesischen nur wenige sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten für Schmerz gibt. Das im Chinesischen für Schmerz gebräuchliche Wort »tong« kann lediglich noch durch »mäßig« oder »stark« ergänzt werden, weitere Möglichkeiten, »Schmerz « zu beschreiben, gibt es im Chinesischen nicht.

Die Wurzel des neuhochdeutschen Wortes »Schmerz« geht zurück auf das lateinische »modere« (beißen) und das griechische »smerdnos«, das am ehesten mit »grässlich« zu übersetzen ist. Das indogermanische »smerd« (reiben) wandelte sich im mittelhochdeutschen Sprachgebrauch in den »smerze« und findet im Englischen eine Entsprechung in dem Wort »smart«. Während sich das Wort »Schmerz« vor allem  im Norden Deutschlands und in Mitteldeutschland durchsetzte, wurden in Bayern, Württemberg und Österreich lange Zeit die Wörter »Pein« und »Weh« zur Kennzeichnung körperlicher Schmerzen verwendet. Pein geht wie das englische „pain“ zurück auf das griechische »ponos« (Last, Buße) und das lateinische »poena« (Strafe), das althochdeutsche »pina« wurde im Mittelhochdeutschen »pine« und häufig mit Bestrafung für irdische Sünden in Beziehung gesetzt.
 

 

Kulturelle Grundlagen des modernen Schmerzverständnisses

In frühester Zeit glaubte der Mensch, dass bei Schmerzen ein böser Geist von ihm Besitz genommen habe. Diesen versuchte man dann durch Rituale „auszutreiben“. Später glaubten die Menschen an eine Strafe der Götter, die man dann durch ein Opfer „gnädig“ stimmen sollte. Mit zunehmender Kenntnis körperlicher Zusammenhänge veränderte sich auch die Sichtweise vom Schmerz - nämlich vom Aberglauben zum wissenschaftlich-medizinischem Wissen.

Die Grundlagen für das heutige Schmerzverständnis und damit auch die Grundlagen für Forschung und Behandlung des Schmerzes, entwickelte im 17. Jahrhundert u.a. der französische Philosoph und Naturwissenschaftler René Descartes (1596–1650). Er unterschied zwischen einer körperlichen und einer psychischen Ebene des Schmerzes. Die Trennung des Leibes von der Seele führte zu der Vorstellung vom Schmerz, als ein reines Alarmsignal für körperliche oder seelische Fehlfunktionen.

Diese Sichtweise verhinderte aber die ganzheitliche Sicht auf den Schmerz, denn bis zur Wahrnehmung von Schmerz kann es durch ganz unterschiedliche Einflüsse zu einer Dämpfung, Verstärkung oder Veränderung der ausgelösten Schmerzimpulse kommen, weshalb man heute auch vom bio-psycho-sozialen Schmerz spricht. Die Lösung aus den religiösen Bedeutungszusammenhängen und die Entwicklung einer medizinischen Sicht des Phänomens Schmerz am Ende des 19. und zu Beginn der 20. Jahrhunderts hat zu einem ungeheuren Angebot an Behandlungsmöglichkeiten geführt, aber auch zu eher passiven Verhaltensweisen beim Menschen: die Menschen haben zunehmend verlernt, mit Schmerzen als Bestandteil des Lebens umzugehen. Das »Schmerzbewusstsein« des 20. und 21. Jahrhunderts ist zumindest in den westlichen industrialisierten Ländern weitgehend dadurch gekennzeichnet, dass Schmerz als fremdes, störendes Übel verstanden wird, das durch entsprechende Techniken und spezielle Therapien »bekämpft« werden muss.

Ethisch-religiöse Grundgedanken zum Schmerz

Für ein Verständnis des Phänomens Schmerz im kulturellen Vergleich sind auch ethisch-religiöse Grundgedanken bedeutsam, unter denen die individuelle Schmerzerfahrung bewertet und gedeutet wird. Sowohl in der christlichen als auch in der jüdischen Religion gelten Schmerz und Leid als Folge des Sündenfalls, als Zeichen Gottes. Die religiöse Einstellung zum Schmerz kann sich beispielsweise in der Haltung widerspiegeln, den Schmerz tapfer ertragen zu müssen. In der Verweigerung jeder Hilfe, als Sühne gedacht, sucht dieser religiöse Mensch dadurch die Nähe Gottes. Im Märtyrertum ist die religiös motivierte schmerzhafte (Selbst-) Bestrafung ein mit Anerkennung verbundenes Ritual. Wer im Mittelalter ein Mittel gegen Schmerzen anbot oder einnahm, schloss -  in den Augen der Kirche - einen Pakt mit dem Teufel und wurde als Hexe oder Hexer verbrannt. Schmerz war die Strafe Gottes. Er musste ertragen werden, um die Erlösung der Seele zu erlangen. Es war die Gnade Gottes, die Erlösung von Schmerzen brachte.
 

 

Die christliche Philosophie des Schmerzes und des Leidens kann aber auch in der Haltung des Mitleids, in humanitärer Hilfe und Nächstenliebe zum Ausdruck kommen.

Im Islam gilt der Schmerz als Prüfung Gottes, die in Geduld und Ausdauer bestanden werden kann, wenn Schmerz im Vertrauen auf die göttliche Gnade als vorbestimmtes Schicksal ertragen wird. In der hinduistisch-buddhistischen Weltanschauung wird Schmerz als schicksalsmäßig dem Leben zugehörig angesehen, der durch meditative Übungen beherrscht werden soll.

Die »4-fache Wahrheit vom Schmerz« hat eine zentrale Bedeutung in der Lehre Gautama Buddhas, um den Weg zu Erleuchtung und Erlösung zu finden. So lässt sich auch verstehen, dass das geringe Vertrauen vieler Hindus in die moderne naturwissenschaftliche Medizin darin begründet ist, dass diese Schulmedizin keine Mantras, Meditationsübungen, sondern nur Medikamente verschreibt. Pharmakologische Verfahren behindern dabei jedoch die meditativen Anstrengungen, mit denen die Überwindung des Schmerzes ermöglicht werden soll.

Die wenigen hier vorgestellten Beispiele sollen zeigen, dass Schmerz nicht nur eine persönliche Empfindung ist, sondern auch eine besondere Form der Kommunikation in der Gesellschaft.  Vor dem kulturellen Hintergrund spielen Werte, Rituale und Begriffe eine bedeutende Rolle wie Schmerzen erlebt werden und was sie ausdrücken.
 

Es ist nicht nur der Schmerz, der das Leben bestimmt, sondern es ist auch das Leben, das die Intensität und die Bewertung des Schmerzes mitbestimmt.

Mit bestem Dank an den Autor H.-Christof Müller-Busch