Schmerz und Sexualität

Sexualität kann in unserem Leben eine besondere Bedeutung haben. Sie ist ein wesentlicher Aspekt der Verbundenheit in der Partnerschaft und Intimität und geht für viele Menschen mit einer größeren Befriedigung im persönlichen, beruflichen und emotionalen Bereich einher. Sexuelle Gesundheit ist damit ein wichtiger Lebensaspekt.

Das sexuelle Erleben geht mit Lust einher, welche häufig im Zusammenhang mit Schmerz, Angst, Trauer beeinträchtigt sein kann. So berichten viele Patienten mit chronischen Schmerzen von unterschiedlichen sexuellen Beeinträchtigungen, die in einem späteren Abschnitt etwas genauer beschrieben werden. Zunächst soll ein altes Vorurteile in denen Frauen mit Migräne bis ca. Anfang des 19. Jahrhundert unterstellt wurde, dass sie sich mit dem Kopfschmerz den „ehelichen Pflichten“ entzogen hätten, zurückgewiesen werden. Heute weiß man aus Untersuchungen, dass Patienten mit Kopfschmerzen tatsächlich tiefgreifende Veränderungen ihrer Sexualität erleben, die sie selbst als sehr belastend erleben. Interessanterweise zeigt sich im Gegensatz dazu, dass wenn Migräne-Patienten während einer Attacke sexuell aktiv sind, dies bei etwa zwei Dritteln auch zu einer Verbesserung, bei einem Drittel aber auch zu einer Verschlechterung der Kopfschmerzen führt. Unklar ist, ob die Verbesserung der Schmerzen eine Folge der Ablenkung der vielfältigen Sinneswahrnehmungen (Geruch, Tastsinn, Geschmack) im Rahmen von Sexualität und Lust oder der physiologischen-hormonellen Veränderungen ist.
 

Bei den meisten Sexualpartnern stehen Liebe und Zärtlichkeit im Vordergrund. Manche Menschen allerdings erleben Lust im Zusammenhang mit Schmerz. Der Übergang von einer lustvollen Spielart von Lust und Schmerz zum krankhaften Zwang, dem Sexualpartner Schmerz zuzufügen bzw. schmerzhafte Handlungen zu verlangen ist fließend. In der Regel ist für diese Menschen der Schmerz im Rahmen der sexuellen Aktivität kontrollierbar/beherrschbar und nicht mit dem chronischen Schmerz vergleichbar.

Leider kommt es recht häufig besonders bei rheumatischen Erkrankungen, dem Fibromyalgie-Syndrom, Schmerzen am ganzen Körper, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Unterbauchschmerzen und Schmerzen im Becken und Genitalbereich zu den unterschiedlichsten sexuellen Beeinträchtigungen. Diese werden im Folgenden etwas genauer beschrieben:
 

  • Mangelndes sexuelles Verlangen: Männer sind hiervon etwas weniger betroffen als Frauen. Die sexuelle Aktivität wird seltener initiiert/gewünscht und der Geschlechtsverkehr eher resignativ geduldet. Schmerz und der damit verbundene Stress, aber auch die Wirkung von Medikamenten kann die sexuelle Lust mindern.
  • Eine Abneigung gegenüber dem sexuellen Kontakt vor allem bei Frauen mit Bauchschmerz, die früher negative Erfahrungen mit Sexualität hatten, wird dies beschrieben. Veränderungen der Schleimhaut in der Scheide (Vulvodynie) z.B. nach häufigeren Pilzinfektionen beschreiben diese Störung auch in Verbindung mit Ängsten vor einer erneuten Infektion. Diese Probleme mit der Schleimhaut werden vermehrt von Patientinnen mit einem Fibromyalgie-Syndrom beschrieben.
  • Die Störung der sexuellen Erregung geht mit der Unfähigkeit bei der Frau einher, eine Befeuchtung der Scheide und Anschwellung der äußeren Genitale zu erlangen oder aufrechtzuerhalten. Der Geschlechtsverkehr ist möglich, dabei werden aber weniger Lustgefühle und weniger Orgasmen empfunden. Die Erektionsstörung beim Mann geht mit der Unfähigkeit eine adäquate Erektion zu erreichen oder aufrechtzuerhalten einher. Auch diese Problematik tritt vermehrt als Nebenwirkung von Medikamenten auf. Insgesamt kann die sexuelle Erregung aber auch durch den Schmerz vermindert werden.
  • Bei der Dyspareunie treten Schmerzen, Irritationen, Jucken, Brennen beim Sexualverkehr auf. Dies kann die äußeren und inneren Genitalien betreffen. Zu beobachten sind dabei häufig Entzündungen und Verkrampfungen des Beckenbodens bei beiden Geschlechtern. Verkrampfungen treten häufig als Folge der Schmerzen vor allem bei Rücken-, Bauch- und Beckenschmerzen auf.
  • Beim Vaginismus kommt es zu Krämpfen (Spasmen) der Muskulatur des äußeren Drittel der Scheide und auch in der Beckenbodenmuskulatur. Dies macht das Eindringen des Penis, eines gynäkologischen Untersuchungsinstrumentes (Spekulum) oder auch Tampon zum Teil nicht möglich. Die Frauen können aber sexuell erregbar sein und Orgasmen haben, kommen aber nicht selten erst bei einem bestehenden  Kinderwunsch in Behandlung.
  • Die Verzögerung oder das Ausbleiben vom Orgasmus wird als Orgasmusstörung bezeichnet.  Dieser tritt auch nicht beim Petting oder der Masturbation auf und geht häufig mit einer Hemmung und  Angst einher, sich fallen zu lassen. Die Angst vor der Schmerzverstärkung bei Bewegungen kann zu einer Hemmung der Orgasmusfähigkeit führen. Die Aufmerksamkeit ist mehr bei der Kontrolle der Bewegung und weniger bei dem sexuellen Lusterleben.
  • Bei der frühzeitigen Ejakulation kommt es kaum zur Kontrolle über die Ejakulation, welche auch vor dem Eindringen in die Scheide und ohne Erektion erfolgen kann. Dies kann bei minimaler Stimulation auftreten. Hier gibt es die Vermutung, dass es durch den Schmerz zu einer Übererregbarkeit des Nervensystems kommt.

Vielfältige körperliche und psychosoziale Faktoren haben einen Einfluss

Die Folgen der Schmerzerkrankung können einen wesentlichen Einfluss auf die Sexualität haben: z.B. die Steifigkeit in der Bewegung, Verspannung der Muskulatur,  Erschöpfung, Schlafstörung, Gewichtszunahme. Der Einfluss von Medikamenten ist ebenfalls bedeutsam und muss in der Therapie unbedingt berücksichtigt und mit dem Arzt besprochen werden. Vor allem Antidepressiva, die zur Behandlung von depressiven Verstimmungen, zur Verbesserung der Schmerzverarbeitung oder bei Schlafstörungen eingesetzt werden, können die sexuelle Lust und Erregbarkeit beeinträchtigen. Aber auch Antikonvulsiva (Medikament gegen Krampfanfälle, die häufig auch bei Schmerzen eingesetzt werden) und opioidhaltige Medikamente beeinträchtigen häufig die sexuellen Funktionen/Lust und können auch zu einem Testosteronmangel beim Mann führen.
 

Einfache Schmerzmittel wie Aspirin und Ibuprofen haben als mögliche Nebenwirkung Erektionsstörungen, Blutdruckmittel wie Betablocker, die in der Behandlung von Migräne eingesetzt werden, können zu einer verminderten sexuellen Lust führen.

Körperliche Faktoren der Erkrankung wie Entzündungen, Nervenschädigung, aber auch Veränderungen im Stoffwechsel und Gefäßsystem, Hautprobleme, hormonelle Veränderungen sind wichtige Einflussfaktoren. Eine erhöhte Empfindlichkeit bei Schmerzreizen kann mit  einer schmerzhaften Sexualität einhergehen.

Psychologische Faktoren können z.B. Angst vor der Bewegung und ein allgemeines Schonungsverhalten, mangelndes Vertrauen in den eigenen Körper, aber auch Scham (z.B. weil sich der Körper nach einem Unfall oder Gewichtszunahme verändert hat), ein verringertes Selbstwertgefühl oder auch depressive Stimmung sein. Der mit der Schmerzerkrankung einhergehende Stress wie berufliche Veränderungen, finanzielle Sorgen können die Lust auf Sexualität mindern. Aber auch Veränderungen in der Partnerschaft verhindern eventuell weiterhin einen genussvolle Sexualität zu erleben: der Partner ist evtl. auch verunsichert, das Paar findet keinen Weg mit der  Problematik umzugehen.
 

Fallbeispiel:

„Hr. K. leidet seit mehreren Jahren an einem chronischen Beckenschmerz, Einflussfaktoren scheinen funktionelle, muskuläre Probleme im Rahmen von immer wieder auftretenden Rückenschmerzen, beruflichem Stress und mit der Schmerzproblematik auftretenden Paarproblemen zu sein. Zu Beginn der auftretenden Rückenschmerzen erlebt er im Zusammenhang mit dem Geschlechtsverkehr immer wieder eine Schmerzverstärkung bei Kippbewegungen des Beckens. Das Paar ist schon lange zusammen, hat seine „Routine“ in der Sexualität, über die individuellen sexuellen Bedürfnisse wird jedoch nicht viel gesprochen. Hr. K. entwickelt zunehmend Angst vor der Sexualität und auch Scham über seine Schmerzverstärkung beim Sex zu sprechen. Sexuelle Lust ist vorhanden, er masturbiert bei Abwesenheit seiner Frau, hat jedoch ein schlechtes Gewissen, da er den Bedürfnissen seiner Frau immer weniger gerecht wird.

Neben den Rückenschmerzen treten zunehmend Schmerzen im Beckenbereich auf, welche sehr schnell dauerhaft vorhanden sind. In diesem Zusammenhang kommt es mehrmals zu längeren Arbeitsunfähigkeitszeiten, bei Wiederaufnahme der Arbeit muss liegengebliebene Arbeit bewältigt werden, was mit Überstunden und Druck durch den Vorgesetzten einhergeht. Hr. K. entwickelt Schlafstörungen, da er nicht abschalten kann, fühlt sich tagsüber sehr erschöpft und bei sexuellen Annäherungsversuchen seiner Frau fühlt er sich zunehmend hilflos, lustlos und hat Angst vor eventuell auftretenden Schmerzen. Der Beckenschmerz nimmt im Laufe der Zeit trotz aller Therapiebemühungen an Intensität zu, im Rahmen dieser Beschwerden kommt es auch abgesehen von der Sexualität zu anderen Konflikten in der Partnerschaft. Hr. K. kümmert sich beschwerdebedingt immer weniger um seine Aufgaben im Garten, in der Betreuung des Sohnes und seines pflegebedürftigen Vaters, so das seine Frau zunehmend mehr belastet wird, was zu Streit und Auseinandersetzungen führt. Im Rahmen einer tagesklinischen Schmerztherapie berichtet Hr. K. dann zum ersten Mal über seine mittlerweile bestehenden sexuellen Beeinträchtigungen mit mangelnder sexuellen Lust und auch Erektionsstörung. Mit seiner Frau habe er deshalb selten sexuelle Kontakte, was die Beziehung sehr belaste. Trotz der jahrelangen Schmerztherapie habe er die sexuellen Probleme nie bei einem der Therapeuten erwähnt.“

Sexualität ist häufig kein Thema in der Schmerztherapie

Viele der betroffenen Patienten berichten dem Therapeuten nicht von diesen Beeinträchtigungen: bei Zeitmangel, wenig Ruhe für das Gespräch mit Wahrung der Privatsphäre des Patienten und auch dem offenen Rahmen, der für Fragen in diesem intimen Bereich notwendig ist, wird ein Gespräch über die sexuellen Probleme eventuell gar nicht möglich. Viele Patienten oder auch Therapeuten schämen sich, darüber zu sprechen. Manche Betroffene sehen in dem Arzt/Therapeut evtl. nicht den richtigen Ansprechpartner.
 

Viele der betroffenen Patienten scheuen sich über ihre sexuellen Beeinträchtigungen mit ihrem Arzt oder Therapeuten zu sprechen.

„ Hr. K. profitierte in der tagesklinischen Schmerz-Therapie vor allem hinsichtlich der muskulären funktionellen Defizite und entwickelte mit der Hilfe der Physiotherapie eine bessere körperliche Leistungsfähigkeit. Mit der Psychotherapeutin in der bereits begleitend laufenden Schmerz-Psychotherapie wurde mit Einverständnis von Hr. K. die Paarproblematik angesprochen und ein Paargespräch durchgeführt. Die Ehefrau empfand die Erläuterungen der Therapeutin hinsichtlich der Zusammenhänge von Schmerz und Sexualität, Angst vor Schmerzverstärkung und Einfluss von Stress auf die Sexualität als sehr hilfreich und zeigte sich in der Folge als sehr verständnisvoll und das Paar sprach wieder mehr über ihre Bedürfnisse und die Probleme mit der Sexualität. Eine ambulante Physiotherapie für die Beckenbodenmuskulatur führte zunehmend zu einer muskulären Entspannung, was mit frühmorgendlichen spontan auftretenden Erektionen einherging. Das Paar wagte sich wieder zunehmend mehr an den Sex heran, mit besserer körperlicher Stabilität im Rückenbereich berichtete Hr. K. auch zunehmend von weniger Angst von einer Schmerzverstärkung und mehr Mut zur „Bewegung“.

In einer umfassenden Schmerztherapie sollten alle Aspekte der Beeinträchtigung der Lebensqualität beachtet werden. Auch wenn der Schmerztherapeut kein Sexualmediziner ist, kann er die Betroffenen an den Gynäkologen, Urologen, Sexualmediziner, Sexualtherapeuten und Physiotherapeuten weiter überweisen. Bei sexuellen Beeinträchtigungen ist wie bei chronischen Schmerzen  eine Zusammenarbeit mehrerer Fachbereiche deshalb sinnvoll und erfolgversprechend.
 

Mit bestem Dank an die Autorin Anke Diezemann-Prößdorf