Erfahrungsberichte

Schulter-Armbeschwerden beim selbstständigen Tischlermeister

Aus der Patientenakte hatte ich entnommen, dass Günter seit 2 Jahren unter Schulter-Armbeschwerden litt. Nichts, was Hausarzt, Fachärzte und Strahlenapparate zu Tage gefördert hatten, konnte den anhaltenden Schmerz erklären. Er war wirklich auf den Kopf gestellt worden, weil auch eine Unfallversicherung daran interessiert war, nichts zu zahlen. Günter hatte vor zwei Jahren einen Autounfall, von daher lag es nahe, die Beschwerden darauf zurückzuführen oder eben auch nicht.

Günter war 42 Jahre alt, verheiratet, selbständiger Tischlermeister.

Ich wollte mit ihm telefonisch einen Termin vereinbaren und war wegen seiner Berufstätigkeit darauf eingestellt, mich mit ihm am späten Nachmittag zu treffen. Seine Frau war am Apparat und ich erfuhr, dass der Zeitpunkt keine Rolle spiele, da er schon seit einiger Zeit nicht mehr arbeiten würde. So legte ich den nächsten Morgen, 8 Uhr fest. Günter kam nicht, zumindest nicht pünktlich. Ich wartete fast eine Stunde, dann kam ein großer Mann, wenigstens 1,90, in mein Zimmer geschlurft. Er hätte ein gut aussehender Mann sein können, wäre sein Gesicht nicht teigig-fahl und etwas aufgedunsen gewesen. Er lief irgendwie staksig, bewegte beim Gehen seinen Oberkörper nicht und ließ sich erschöpft in den Besuchersessel fallen. Dann entschuldigte er sich für sein Zuspätkommen. Er sprach mit so leiser, monotoner Stimme, dass ich ihn kaum verstehen konnte und nachfragen musste. Er erklärte, dass er eigentlich ein sehr pünktlicher Mensch sei, aber er habe in letzter Zeit so große Schwierigkeiten mit dem Aufstehen und Anziehen, irgendwie hätte er das Gefühl, sich Zeitlupe zu bewegen. 

Die Schmerzen waren kurz nach dem Unfall in der Schulter aufgetreten und seien nicht nur immer stärker geworden, sondern wären auch runter in den Arm gezogen. Er könne jetzt den Arm kaum noch bewegen. Zunächst hätte er noch im Betrieb gearbeitet, dann habe er sich auf die Büroarbeiten konzentriert und einem Gesellen die Leitung des Betriebes überlassen. Zur Zeit könne er wegen der Beschwerden nicht mehr am Schreibtisch sitzen, er läge eigentlich nur zu Hause herum und am liebsten wollte er in  Ruhe gelassen werden, er habe sowieso zu nichts Lust. Seine Frau würde ihn mal zu einem Spaziergang drängen, aber das käme für ihn gar nicht in Frage, er wolle niemanden treffen und reden müssen, im Dorf träfe man an jeder Ecke jemanden. 

Günter kam aus einem kleinen hessischen Dorf in dem seine Familie schon seit ewigen Zeiten lebte. Den Betrieb hatte er von seinem Vater übernommen. Im Gegensatz zu seinem Bruder, hätte er schon als Kind in der Werkstatt gespielt, Holz wäre ein wunderbares Material mit dem er gerne arbeite. Günter hatte aus dem kleinen Handwerksbetrieb ein florierendes Geschäft gemacht, indem er sich auf den Innenausbau von Wohnhäusern spezialisierte. Durch die Schmerzen könne er nicht mehr zu den Kunden fahren, auch seien ihm die Ideen ausgegangen. Er müsse nur eins: schmerzfrei werden. Mittlerweile habe er allerdings kaum noch Hoffnung auf Besserung. 

Ich ließ das, was ich gehört hatte Revue passieren und fand eine Depression fast bestätigt. Das berühmte Morgentief (was mit Langschläferei nichts zu tun hat), Antriebslosigkeit, sozialer Rückzug und Hoffnungslosigkeit sind einige typische Merkmale, die auf eine depressive Verstimmung hinweisen. In der Schmerzforschung wurde lange die Frage diskutiert, ob Schmerzen nicht auch Ausdruck einer Depression sein können. Viele Menschen, die unter einer Depression leiden, haben auch Schmerzen. Andererseits sind viele Menschen mit chronischen Schmerzen depressiv gestimmt. Das ist natürlich nicht verwunderlich, da ihnen die Schmerzen die Kontrolle über ihr Leben genommen haben. Wesentlich ist auch der Verlust der Arbeitsfähigkeit. Ihr Lebensinhalt steht damit häufig auf dem Spiel und es gehört in den Bereich der Märchen, dass für die meisten chronischen Schmerzpatienten das Nichtstun ein erstrebenswertes Ziel sei. Sie sind in der Regel tatkräftige Menschen, für die gilt, dass Müßigkeit aller Laster Anfang ist. In Therapien mussten viele erst einmal lernen, wie wohltuend „faulenzen“ sein kann.

Am nächsten Morgen kam Günter mit seiner Frau, sie bat um ein Gespräch. Als ich Günter fragend ansah, nickte er zustimmend. Ich wollte aber zunächst mit der Schmerzbeschreibung weitermachen. Günter beschrieb den Schmerz als dumpf- ziehend von großer, gleichbleibender Intensität, er sei ständig vorhanden. Alle Maßnahmen von Krankengymnastik, über Massagen, Wärme – und Kältebehandlungen bis zu Akupunktur hätten immer nur kurzfristig Linderung gebracht, auch Medikamente brächten außer Magenschmerzen nichts. Er selber hatte keine Möglichkeit positiv auf das Schmerzgeschehen einzuwirken.

Die Schmerzbeschreibung liefert uns Anhaltspunkte für die Diagnose und zum therapeutischen Vorgehen. Günters Beschreibung wies auf eine starke Mitbeteiligung psychologischer Faktoren am Schmerzgeschehen hin. Der Schmerz ließ sich beispielsweise keiner körperlichen Schädigung zuordnen. 

Die Schmerzempfindung ist normalerweise starken Schwankungen unterworfen. So ist der Schmerz sehr selten „immer vorhanden“ und „durch nichts zu beeinflussen“. Schmerz ist ein sehr labiler Bursche, bei geringster Ablenkung ergreift er die Flucht oder macht sich fast unspürbar. Ist allerdings der Aufmerksamkeitsscheinwerfer voll auf ihn gerichtet, entfaltet er seine ganze Stärke. Eine depressive Stimmung zentriert die Aufmerksamkeit auf den schmerzenden Bereich. Sie zwingt sozusagen zum pessimistischen inneren Gemurmel „das wird sowieso nichts, das geht nie mehr weg, ich kann gar nichts tun“, wobei sie sich zwischendurch immer wieder vergewissert, ob der Schmerz noch da ist. Die Gedanken nageln ihn fest. 

Da saß vor mir ein schmerzgequälter Mensch ohne jegliche Hoffnung.

Zunächst einmal saß Günters Frau vor der Tür und wollte mich sprechen.

Herein kam eine schöne Frau, jugendliches Gesicht mit  leichtem Makeup, eingerahmt von silbrig weißem Haar. Sie lächelte leicht beim guten Tag sagen, setzte sich und ich sah in tieftraurige Augen. Sie hatte ihren Mann gefragt, was er mit mir besprochen habe  - nichts, er hätte es nicht gekonnt –

„Was hätte er denn mit mir besprechen sollen?“

„Ich hielt es für wichtig, dass er mit Ihnen darüber spricht, dass unser Sohn bei dem Autounfall starb, er war 14 Jahre alt, unser einziges Kind. Mein Mann fuhr das Auto, er hatte keine Schuld, aber er glaubt das nicht. Immer und immer wieder erzählt er den Unfallhergang, so als ob es gerade passiert wäre. Es geht ihm immer schlechter, er verbeißt sich  richtig. Immer die gleiche Geschichte, Wenn ich glaube, etwas Abstand zu haben, fängt das Ganze von vorne an. Ich kann das nicht mehr aushalten.“

„Unser Haus ist wie eine Gruft, ich habe das Gefühl, ich müsse auf Zehenspitzen schleichen, Günter sitzt stundenlang in Michaels Zimmer, es ist unverändert, ich darf nicht mal lüften, wenn ich´s dennoch tue, schreit er. Ich habe versucht, ihn zu bewegen, wenigstens mit mir einkaufen zu gehen, mal raus aus dem Dorf, mal einen Spaziergang im Kurpark, einen Kaffee trinken oder Eis essen, das hat er früher gerne getan. Meistens lehnt er ab. Kommt er dann doch mal mit, dann tut ihm nach ein paar Schritten der Rücken weh und wir schleichen von Bank zu Bank. In letzter Zeit geht er eigentlich nur noch raus, wenn er einen Arzttermin hat.“

„Gehen Sie alleine mal aus?“ „Nur zum Einkaufen. Günter würde das nicht verstehen und die im Dorf auch nicht. Wissen Sie, da macht man nichts alleine. ,Das Kind ist tot, der Mann ist krank und die vergnügt sich’, heißt es schnell.“

„Glauben Sie, dass das gesagt wird oder wissen Sie es?“

„Natürlich hat das noch keiner gesagt, aber ich weiß doch, wie geredet wird, im Dorf stehen sie ständig unter Beobachtung. Alle wissen, was richtig ist ... und was trauern heißt, wissen die anderen besser und ganz genau. Michael, unser Sohn war ein fröhlicher Junge, unternehmungslustig, wir beide fuhren häufig mal alleine weg und hatten Spaß miteinander. Er würde nicht wollen, dass ich wie eine Tote lebe. Da bin ich mir ganz sicher.... Ich vermisse ihn doch auch, aber er lebt in mir und ich möchte mit ihm leben, wie früher, dann wird der Schmerz auch langsam vergehen.“

„Haben Sie mit Ihrem Mann so darüber gesprochen?“

„Ich habe es versucht, aber ich habe das Gefühl, er hört mich gar nicht oder er sagt, ich könne tun, was ich will, aber dabei guckt er mich so vorwurfsvoll an, als ob ich etwas ganz Verwerfliches vor hätte.“ 

Wem war ich begegnet?  Einem Menschen, der lieber leben als sterben wollte und einem anderen, der lieber sterben als leben wollte und dazu voller Schmerzen war. Beide eingewoben in dörfliche Riten und Regeln.

Der Verlust des Kindes, die Verzweiflung und die resultierende Sprachlosigkeit zwischen dem Ehepaar hätte nach einer Paartherapie verlangt. Ich hatte das auch schon kurz in einem Gespräch mit den beiden angedeutet, aber Günter hatte au mein Gesprächsangebot zurückgewiesen. So mussten Medizin und Psychologie zweigleisig fahren. Günter bekam zunächst das, was er von uns erwartete, eine medizinische Behandlung in Form von einem Antidepressivum. Allerdings ein Medikament, dass in der Schmerztherapie nicht nur als Antidepressivum, sondern auch Schmerzmedikament eingesetzt wird. So bestand die Hoffnung, sowohl den Schmerz als auch die Depression beeinflussen zu können. Zur weiteren Betreuung überwiesen wir ihn zu einem uns vertrauten Neurologen.

Ich konnte Silke, so hieß Günters Frau, von einem Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik überzeugen. Die Klinik wurde von Kollegen geleitet und ich kannte deren Arbeitsweise gut. So hatte sie die Möglichkeit, die erlebte Hausgruft zu verlassen und eine räumliche Distanz zwischen sich und den Regeln zu schaffen. Wir verabredeten ein neues Treffen einige Wochen nach Beendigung des Klinikaufenthaltes. Silke sollte sich nicht unter Erfolgszwang fühlen. Es ist ja ein großer Unterschied zwischen der Erprobung neuer Denk- und Verhaltensweisen fern vom Brennpunkt und ihrer Umsetzung in der häuslichen Wirklichkeit. Ich wusste das aus vielen leidvollen Versuchen meiner Patientinnen und Patienten.

So geschah es, und ich traf ein halbes Jahr später einen schmerzgequälten Mann, an dessen Körper es kaum eine Stelle gab, die nicht schmerzte und eine Frau, die durch ihre Körperhaltung signalisierte, dass sie sich von seinem dramatischen Krank und -Trauerverhalten nicht mehr niederzwingen ließ.

Günter schien lebensüberdrüssiger denn je. War seine Stimme bei unseren ersten Begegnungen nur leise und monoton, so hatte sie jetzt einen ,mauligen’ Unterton, als er Silkes Befreiungsversuche kommentierte. Sie hatte sich einen ,Aktivitätenplan’ aufgestellt (Sport, Veranstaltungen, „Kaffeefahrten“) und langsam angefangen, ihn in die Tat umzusetzen. Nur sehr selten gelang es, ihn zum Mitmachen zu motivieren, häufiger Harndrang hinderten ihn, länger als eine Stunde außer Haus zu sein. Er brachte seine Frau in eine  schwierige Situation, das heißt, während er sagte „geh ruhig, lass es dir gut gehen“, signalisierte seine Haltung und die Stimme „aber wenn du das tust, finde ich das nicht richtig“. Nicht immer gelang es ihr, diese widersprüchlichen Botschaften zu ignorieren.

Alle lieben Verwandten und Bekannten bedauerten Günter, keiner sie. 

Den geballten Forderungen und unterschwelligen Aggressionen konnte Silke allein kaum etwas entgegen setzen und ich bot ihr  die Hilfe von einer Kollegin in ihrer Nähe an, die sie erleichtert annahm. So konnte ich miterleben, dass es ihr immer besser gelang, sich von den Zwängen zu befreien und ins Leben mit Michael im Herzen zurückzukehren.

Günter war Dauergast beim Neurologen und verharrte zwischen Leben und Tod.

Günters Verhalten hatte in der Rückschau zwei wesentliche Merkmale, es war von Hilflosigkeit und unterschwelliger Aggression geprägt. Die Vorstellung, am Tod seines Kindes schuld zu sein, war in sein Gehirn eingebrannt und er fand keine Löschtaste. So stellte sich quasi ein gewohnheitsmäßiges Schuldgefühl ein, dem er aus eigener Kraft nicht entfliehen konnte. Leider kommt es immer wieder vor, dass sich Menschen, die unter einer Depression leiden, das Leben nehmen, weil sie keine Veränderung ihrer Lebenssituation sehen können.  Sie ertragen sich selbst nicht mehr, werden sich selbst zur Last. 

Günters Beschwerden waren psychotherapeutisch nicht zu beeinflussen, da er jegliche Zusammenarbeit ablehnte. Medikamente ließen ihn leben. Welch ein Leben?
 

Mit bestem Dank an die Autorin Carmen Franz (†)